GENUSS & REISE

Weindurchblick

Wein ist ein Getränk, das ruhig ein wenig blöd machen darf – Weinpreise und ihre Entwicklung der letzten Jahre.
Autor: 
Alessandro Borioni
, Fotograf: 
Advertorial
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Weindurchblick

Beschäftigen wir uns heute doch mal mit einer der groteskesten Entwicklungen, die einem endlichen Genussmittel, um das es sich schließlich bei Wein handelt, widerfahren ist. Kein anderes Genussmittel hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten eine ähnlich massive Preissteigerung erfahren wie unsere Lieblingssuppe aus vergorenen Trauben. Hierbei schockieren nicht die Preiserhöhungen, die durch steigende Löhne, Energie- und Produktionskosten sowie allgemeine Inflation entstehen – und es dem Kleinproduzenten fast unmöglich machen, einen konkurrierenden Flaschenweinpreis zu generieren –, sondern die teils realitätsfremde Preisentwicklung im sogenannten „Fine Wine Market“. Wie kommt es dazu, dass ein sonst doch nach Bodenständigkeit lechzendes Produkt wie Wein eine solche Entwicklung hinter sich hat? Hier müssen wir nach einer Ursachenforschung die folgenden Faktoren benennen:


„Fine Wine“ als Investment oder  „Cum ex di Vino?“

Wer kennt ihn nicht, den typischen Weinhändler, der einem Kunden seinen genialen Plan unterbreitet. Traumrenditen garantiert! Denn schließlich gebe es kein sichereres Investment, als sich eine Kiste feinen Burgunder in den Keller zu legen. Vergleicht man die Wertentwicklung solch edler Gewächse mit der des breiten Aktienindexes MSCI World und mit dem Goldpreis, so zeigt sich, dass dabei vor allem die Burgunder gut abschneiden. Nachdem sich der Preisanstieg für diese Weine im Jahr 2020 verlangsamt hat, sind sie 2021 wieder stark gestiegen. Domaine Armand Rousseau Chambertin 2015 war mit einem Plus von 13 Prozent der größte Aufsteiger, dicht gefolgt von Domaine de La Romanée-Conti, Richebourg 2014 und Domaine Leflaive Chevalier-Montrachet 2016, die beide um 11 Prozent stiegen. Burgund war eine der Regionen, die von den Unwettern in diesem Jahr am stärksten betroffen waren, die Erträge dort sind ersten Schätzungen zufolge 2021 halb so hoch wie im Vorjahr. Daher erfahren ältere Jahrgänge derzeit eine erhöhte Nachfrage und unterliegen damit steigenden Preisen. Also werden kurzerhand drei Kisten Burgund im Gegenwert eines Mittelklassewagens im Keller verstaut und jedem freitagabendlichen Besuch mit den Worten „Die habe ich gesondert gekennzeichnet, nicht dass Karin die mal mit ihren Freundinnen vom Buchclub aufmacht ...“ präsentiert.

Inflationäre Bestnoten oder „kaufst du es nicht jetzt, dann sei ma ned bes, kaufts holt an andrer oder gor der Chines“.

Auch Steuern und Gesetzesänderungen können einen erheblichen Einfluss auf eine Wein-Investition haben. 2008 wurde in Hongkong die Steuer auf Weine abgeschafft, was dazu führte, dass die Stadt zum wichtigsten asiatischen Wein-Umschlagplatz avancierte. Auch für normale Genießer hat sich die ehemalige britische Kronkolonie zu einem Hauptumschlagplatz entwickelt. Nach Angaben der Wirtschaftsfördergesellschaft HKTDC stieg das Handelsvolumen 2021 um mehr als 40 Prozent auf rund 11,7 Milliarden Hongkong-Dollar (1,2 Milliarden Euro). Dabei besteht die Ausfuhr fast ausschließlich aus Re-Exporten. Die meisten Flaschen kommen aus Europa, allein 60 Prozent aus Frankreich, und werden nach Asien weiterverschifft, zu 90 Prozent nach Festland-China und ins benachbarte Macao.


100 Parker-Punkte – Das Totschlagargument des Sommeliers

Robert Parker jr. hat weltweit Einfluss auf die Preisentwicklung von Weinen. Insbesondere französische Weine sind abhängig von seinem Urteil und seiner Bewertung. Parker vergibt maximal 100 Punkte. Von Parker mit 100 Punkten ausgezeichnet zu werden, ist der Jackpot, eine der prestigeträchtigsten und bekanntesten Auszeichnungen der Welt. Ein unbekanntes Weingut kann über Nacht zur Sensation werden, in einigen Fällen verdreifachten sich die Werte der Flaschen. Ein gutes Beispiel dafür ist die jüngste Ausgabe des 2016er Sassicaia: Der Verkaufspreis lag im Januar bei 635 Pfund, also 715 Euro, für sechs Flaschen. Jetzt wird der Wein für 300 Euro pro Flasche gehandelt bzw. es werden auch schon mal sechs Flaschen für 2.400 Euro verkauft. Im Wissen um diese besondere Auszeichnung ist es bei vielen Sommeliers zum letzten (und vom Gast einzig tolerierten) Verkaufsargument geworden. „Aber Monsieur, dieser Wein wurde mit 100 Parker-Punkten ausgezeichnet .“ Muss also gut sein. Egal ob es sich hierbei um einen Wein aus 1961 oder 2018 handelt. Egal ob dieser zu Wild oder zur Poke-Bowl serviert wird. Egal ob es gerade mittags an der Zugspitze oder morgens an der Hotelbar in Kuala Lumpur ist.


Fazit

Sollten Sie nicht gerade in der privilegierten Situation sein, so viel Zeit mitzubringen, um sich die nächsten Jahre mit dem Weinmarkt in Hongkong, einer Robert Parker „The Wine Advocat“-Jahrgangsbewertungstabelle und Shortselling im Grau- und Sekundärmarkt beschäftigen zu wollen, öffnen Sie sich guten Gewissens beim Lesen dieses Artikels eine Flasche Wein, die Sie für 25 bis 50 Euro erstanden haben und machen Sie sich ruhig damit ein wenig blöd – und glücklich.