München, nahe Isartor, 12:01 Uhr, Jin verspätet sich ein wenig zum Aufsperren seines Restaurants unmittelbar vor der Baustelle der neuen Tiefgarage am Thomas-Wimmer-Ring. DER asiatische Spitzenkoch Münchens wird hier erneut auf seine Leidensfähigkeit geprüft. Zudem muss er noch schnell eine große Champagner-Bestellung auslösen. Auch nicht so einfach, alle Sachbearbeiter befinden sich derzeit in der Mittagspause. Er solle es später wieder versuchen. Jin versteht nicht, dass eine Bestellung von über 60 Flaschen Champagner heute nicht möglich ist und das nach neun Monaten Lockdown. Das Erlebnis ist ein gutes Spiegelbild der aktuellen Situation in der Gastronomie und dem Handel.
„Ich liebe es, Genießer bei mir zu haben“ – welch schönes Lob für seine Gäste, das Jin hier ausspricht. Er hat seine Gäste in der Zeit des Shutdowns sehr vermisst. Ihm kann man solch eine Aussage glauben.
Die Zeiten waren auch für ihn persönlich äußerst hart. Stets umtriebig hat er sich, nach einem kurzen persönlichen Hänger während des ersten Lockdowns, wieder schnell gefangen und neuen kreativen Ideen hingegeben. Seine Mitarbeiter hielt er durch die gesperrten Monate in Beschäftigung. Ein Kraftakt. Seine Stammgäste danken es ihm heute, nach der Wiedereröffnung, mit üppigen Trinkgeldern und leeren Champagner-Kellern.
Durch die fehlende Reisemöglichkeit in den letzten Monaten haben sich unendliche Sehnsüchte bei den Gäste ergeben, welche Jin charmant und gekonnt befriedigen kann. Vorspeise, Hauptspeise, Dessert und ein Magenräumer in Form von hochprozentigen Destillaten – das war gestern! Bei ihm geht es um den Genuss unterschiedlichster Aromabilder auf den Tellern, in mehreren Akten. Dazu hat er sich die besten Weine zugelegt. Dies wäre natürlich auch jederzeit mit einer Unterstützung eines Sommeliers möglich gewesen, aber dazu hat Jin seine eigene Einschätzung. Er hat diese Phase des Lockdowns eben nicht genutzt, um sich namhafte Wein-Sommeliers ins Haus zu holen, welche unglaubliche Adjektive aus den Kehlen schleudern und damit jeden Hobby-Önologen tief beeindrucken. „Ein zartes Aromabild der reifen gelbfruchtigen Beerenfrüchte aus der Süd-Provence stehen in Harmonie zu einer stets belebenden Säure“ – solche Aussagen treiben Jin auf die Palme.
Er hat sich entschieden, das selbst zu erproben. Und so genießen wir erst einmal wieder ein Schlückchen gemeinsam. Der Schaumwein ist schon längst Geschichte, daher widmen wir uns einer „Wein-Granate“ – Paleo heißt der Wein unserer Begierde. Gefunden in der Schatzkammer des Feinkost Käfer Weinkellers. Das ist Gaumensex der feinsten Art und Weise – Sauvignon Blanc und Chardonnay bilden hier eine so perfekte Symbiose, dass Jin vollkommen vergisst, dass er sich in einem Interview befindet.
Wir gönnen uns eine Pause und genießen Leckereien seiner Frau, fachsimpeln aber eine kurze Zeit über diesen grandiosen Wein.
Die Genussreise aus der Küche mit den passenden Weinen zu kombinieren, ist mit Sicherheit eine spannende und schöne Sache. Aber letztendlich geht es doch auch darum, dass ich den Gast erst einmal richtig einschätzen bzw. abholen muss, was er eigentlich wünscht.
„Ich fange doch heute auch nicht gleich mit einem Marathon an, wenn meine größten sportlichen Leistungen zuletzt darin bestanden haben, den Glasmüll mehrfach zum Glascontainer zu bringen“ – eine wahrlich philosophische Erkenntnis. Jin erklärt mir, dass er stets versucht zu erkennen, welche Intentionen seine Gäste an diesem Abend haben und wie er den perfekten Abend für seine Gäste gestalten kann. Er ist einfach ein Großmeister der Menschenkenntnis und kennt zudem alle Tricks und Kniffe der Gastronomie. Dafür ist er einfach schon ein alter Hase der Münchner Nachtszene und weiß stets, wie er wen, wo und wie behandeln muss. Das ist ein Pfeiler seines Erfolgs.
Ich vergleiche Weine und den entsprechenden Kochgenuss oft mit einem der unglaublichen Robert Redford-Blockbuster. Sie wollen doch nicht am Anfang des Films schon das Ende erfahren, oder? Es gibt zudem immer wieder unerwartete Veränderungen der Szenerie. Hatte man gedacht, dass jetzt der Ablauf kommt, wie erwartet, ergibt sich eine vollkommen neue Situation – „Peng“ hat es gemacht und schon beginnt die Genussreise wieder auf einem neuen Niveau ... Jin ist tief beeindruckt von meinem Vergleich und öffnet gleich mal die zweite Pulle Paleo ... „Ich muss dies gleich mal testen“, meint er.
Wir merken gerade, was einen tollen Abend oder ein außergewöhnliches Treffen ausmacht – es sind einfach die Menschen, die sich wieder treffen können und die auch hungrig nach Genuss, Tradition, Liebe, Harmonie und Leidenschaft sind –im Restaurant und im Glas. Dies können wir bieten.
„Die Liebe“ ist seine treibende Kraft, die ihm diese Fähigkeiten immer wieder gibt, dass Jin sich täglich neu erfindet – mal meh, mal weniger – man kann nicht jeden Tag Bundeskanzler sein.
Gutes, kreatives Essen und unsere Liebsten um uns herum, das ist das Schöne. So viel Harmonie kann doch auch der Münchner Gastronomie nicht schaden, meinen wir, und entscheiden uns spontan, noch eine letzte Flasche zu öffnen. Prost und alles Gute der Gastronomie!