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Weihnachtspflanzen im Aufwind

In Mitteleuropa und vielen anderen Teilen der Welt sind Misteln auf dem Vormarsch. Das kann in einigen Regionen zum Problem für den Obstbau, die Forstwirtschaft und den Naturschutz werden.
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Weihnachtspflanzen im Aufwind

Mit einer goldenen Sichel in den Wald zu gehen und Misteln zu ernten, mag aus heutiger Sicht ein bisschen verschroben wirken. Doch es ist kein Zufall, dass der Druide Miraculix aus den Asterix-Comics seinen Zaubertrank ausgerechnet aus diesen Gewächsen braut. Schließlich galten die kugeligen Sträucher mit den weißen Beeren früher als Lebewesen zwischen Himmel und Erde, denen man allerlei magische Fähigkeiten zuschrieb. Inzwischen sind Zaubertränke zwar aus der Mode gekommen, die Misteln aber genießen nach wie vor ein spezielles Ansehen. In vielen Regionen Europas und Nordamerikas sind sie als Weihnachtsschmuck oder auch als Glücksbringer zu Neujahr beliebt. Und eine der bekanntesten Traditionen sieht es als gutes Omen für eine Beziehung, sich unter einem Mistelzweig zu küssen.

Die Gelegenheiten dafür sind in den letzten Jahren deutlich häufiger geworden. Denn die Weißbeerige Mistel, die vom Süden Skandinaviens über Mitteleuropa bis nach Südeuropa vorkommt, scheint derzeit zu den Gewinnern der Pflanzenwelt zu gehören. Fachleute unterscheiden bei dieser Art drei Unterarten, die jeweils auf verschiedenen Bäumen wachsen. Die Tannen-Mistel und die Kiefern-Mistel haben sich auf die entsprechenden Koniferen spezialisiert. Die Laubholz-Mistel dagegen kann sich auf vielen verschiedenen Wirten ansiedeln, häufig findet man sie zum Beispiel auf Linden, Pappeln, Weiden, Ahorn und Apfelbäumen. Vor allem diese Unterart hat sich in letzter Zeit in Deutschland stark ausgebreitet.

Für Weihnachtsfans, Verliebte und Druiden klingt das nach einer guten Nachricht. Doch Misteln haben auch noch eine andere Seite, die ihr massenhaftes Auftreten problematisch macht. Denn einen Teil ihrer Lebenskraft saugen sie aus den Bäumen, auf denen sie wachsen. Dazu schicken sie wurzelähnliche Gebilde durch das Holz bis in die Leitungsbahnen und zapfen dort Wasser und Nährstoffe ab. „Sie haben zwar nicht das Ziel, ihre Wirte dadurch zu töten“, erklärt Gerald Parolly vom Botanischen Garten Berlin. „Aber sie schwächen die Bäume und können sie im Extremfall sogar zum Absterben bringen.“ Forstwirte ärgern sich dann über geringere Mengen und eine schlechtere Qualität des Holzes, Obstbauern über weniger Blüten und Früchte. Und oft sind befallene Gehölze auch anfälliger für die Attacken von Insekten und Pilzen. Zu viele Stressfaktoren sind eben auch für Bäume nicht gesund.

Mit Sorge beobachten Naturschützer daher, dass sich Misteln seit den 1990er Jahren massiv in den Streuobstwiesen Süd- und Mitteldeutschlands ausbreiten. Vor allem Apfelbäume leiden stark unter dem Befall, zeigen oft Wucherungen und krebsartige Schäden. „Seit Neuestem finden sich die Misteln in einigen Regionen aber auch auf Birnbäumen“, berichtet Markus Rösler vom Bundesfachausschuss Streuobst des Naturschutzbundes Deutschland (NABU). Dabei hatte man gerade diese Bäume für einigermaßen sicher gehalten. Schließlich haben sie eine Gegenstrategie entwickelt und lassen ihr Gewebe rund um die Keimungsstelle des unliebsamen Mitbewohners absterben. Lange hat das gut funktioniert, die Misteln hatten meist keine Chance. „In letzter Zeit aber scheint das in einigen Gebieten nicht mehr der Fall zu sein“, sagt Markus Rösler. „Und wir haben noch keine Ahnung, woran das liegt.“

Klar ist jedenfalls, dass Misteln vor allem geschwächte und schlecht gepflegte Obstbestände stark befallen und nachhaltig schädigen können. Und das ist sowohl aus naturschutzfachlicher als auch aus kultureller Sicht ein Problem. Denn Streuobstwiesen, auf denen hochstämmige Obstbäume ohne Einsatz synthetischer Düngemittel und Pestizide wachsen, gehören zu den artenreichsten Lebensräumen Mitteleuropas. Weit mehr als 5000 Arten von Pflanzen, Tieren und Pilzen haben Fachleute dort schon nachgewiesen. Gleichzeitig sind diese Landschaften auch ein lebendiges und vielfältiges Kulturerbe. Immerhin wachsen dort insgesamt rund 3000 Obstsorten, von denen man viele nur an einzelnen Orten findet.

Diese Hotspots der biologischen Vielfalt aber stehen seit Jahren als „stark gefährdet“ auf der Roten Liste der Biotoptypen Deutschlands. Denn obwohl seit den 1980er Jahren mancherorts Bäume nachgepflanzt wurden, müssen auch heute noch Streuobstwiesen Neubaugebieten weichen oder werden aufgegeben, weil sich die Nutzung nicht mehr rechnet. Und jetzt kommen noch die Misteln dazu. „Dieses Problem ist nicht überall in Deutschland dramatisch“, betont Markus Rösler. „Aber manche Fachleute sagen, dass die Streuobstwiesen in Rheinland-Pfalz oder im Saarland schon stärker durch Misteln gefährdet sind als durch die Bebauung.“

Es sind aber nicht nur Obstbäume, denen die vielen Schmarotzer in ihren Kronen zusetzen. Auch Gerald Parolly kann das Problem schon beim Blick aus seinem Bürofenster besichtigen. Der Botanische Garten Berlin besitzt eine große pflanzengeografische Abteilung, in der typische Pflanzengemeinschaften aus unterschiedlichen Weltregionen gezeigt werden. „Auch dort haben wir ein Mistel-Problem“, sagt der Biologe. Mit am schlimmsten ist es im Bereich der nordamerikanischen Wälder, doch auch an anderen Stellen versuchen die Schmarotzer mit den weißen Beeren immer wieder Fuß zu fassen. Betroffen sind alle möglichen Gehölze von Birken und Pappeln bis zu Robinien und Rosengewächsen. „Wir haben zwar keine langjährige Erhebung dazu gemacht“, sagt der Wissenschaftler. „Aber der Befall hat in den letzten Jahren ganz sicher zugenommen.“

Einen ähnlichen Trend beobachten Fachleute auch in den Wäldern Polens. Ein Team um Pawel Lech vom Institut für Waldforschung in Raszyn hat festgestellt, dass sich die Misteln dort in den Jahren 2008 bis 2018 stetig ausgebreitet haben. Die meisten fanden sich interessanterweise in den Regionen, die in den Jahren zuvor die stärksten Dürren erlebt hatten. Die Forscher halten es deshalb für wahrscheinlich, dass der Klimawandel den Vormarsch der Misteln begünstigt hat.

Dieser Verdacht besteht auch anderenorts. „Misteln sind zwar nicht besonders wärmeliebend, schließlich kommen sie sogar in Skandinavien vor“, sagt Streuobst-Experte Markus Rösler. Auffällig sei aber, dass sie sich in Mitteleuropa von Süden nach Norden ausbreiten und zunehmend auch die höheren Lagen der Mittelgebirge erobern. „Das ist ein Indiz dafür, dass sie in Regionen vordringen, die vorher klimatisch ungünstig waren.“ Möglicherweise profitieren dabei nicht nur die Parasiten selbst von den steigenden Temperaturen, sondern auch die Vögel, die sie verbreiten.

Für viele mitteleuropäische Baumarten sind die steigenden Temperaturen und sinkenden Niederschlagsmengen dagegen der pure Stress. „Die Misteln kommen besser durch trockene Sommer als viele ihrer Wirte“, sagt Gerald Parolly. Dadurch aber werde es auch problematischer, wenn sich die Parasiten in den Kronen ansiedeln. „Baumbestände, die ohnehin schon durch den Klimawandel oder andere Probleme geschwächt sind, leiden besonders stark unter dem Befall“, erklärt der Biologe.

Im Botanischen Garten allerdings werden die Anlagen im Sommer bewässert. Deshalb führt Gerald Parolly den zunehmenden Mistelbefall dort zusätzlich auf einen anderen Effekt zurück. Von den Berliner Straßen- und Parkbäumen werden die Misteln in der Regel nämlich nicht oder zu wenig entfernt. Und wenn sie einmal da sind, breiten sie sich auch weiter aus. Je mehr Misteln es gibt und je näher sie dem Garten rücken, umso wahrscheinlicher ist es, dass immer mehr Samen von den Vögeln dorthin getragen werden.

„Auch bei Obstbäumen hat man schon in den 1940er Jahren erkannt, dass mangelnde Pflege zu einer Ausbreitung der Misteln führt“, ergänzt Markus Rösler. Eigentlich brauchen vor allem Apfelbäume ohnehin regelmäßig einen Schnitt, um vital zu bleiben und eine gute Ernte zu liefern. Bei solchen Pflegemaßnahmen wurden früher auch die schmarotzenden Büsche in den Kronen entfernt. Doch je mehr der Streuobstbau von einer Einkommensquelle zu einer Liebhaberei wurde, umso mehr Bestände blieben zu lange sich selbst überlassen. Auch das dürfte den Siegeszug der Misteln begünstigt haben.

Lässt sich dem Problem also mit Säge und Astschere zu Leibe rücken? Praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Studien sprechen dafür. Allerdings ist das eine aufwändige Angelegenheit – und erfordert mitunter eine Radikalkur. Denn um eine Mistel dauerhaft loszuwerden, muss man mindestens 30 bis 50 Zentimeter von ihrem Ansatz ins gesunde Holz zurückschneiden. Sonst bleiben die Saugwurzeln erhalten und treiben später wieder aus.

Für Obstbestände empfiehlt der NABU-Bundesfachausschuss Streuobst daher eine Abwägung: Bei geringem Befall solle man rigoros gegen die Schmarotzer vorgehen und sie möglichst komplett entfernen. Wenn man stark befallene Bäume nicht ganz fällen oder massiv schädigen wolle, bleibe als Notmaßnahme nur, die Misteln etwa alle drei bis vier Jahre abzubrechen oder abzuschneiden. „Dann kommen sie zwar zurück, können aber erst nach etwa vier bis fünf Jahren wieder Früchte bilden“, erklärt Markus Rösler. Das verschafft dem Baum zumindest eine Atempause. Und man kann verhindern, dass sich die Pflanzen mithilfe ihrer Beeren weiter ausbreiten.

„Unser Ziel ist es nicht, die Misteln komplett auszurotten“, betont der Streuobst-Experte. Schließlich bieten die weißen Beeren allein in Berlin und Brandenburg Nahrung für mindestens 27 heimische Vogelarten. Zudem gibt es auch einige Insekten, die zwingend auf die Pflanzen in den Baumkronen angewiesen sind. Trotzdem sehen die Fachleute vom NABU kein Problem darin, die Schmarotzer aus Streuobstwiesen zu entfernen. „An Pappeln zum Beispiel werden sie ja auch weiterhin wachsen“, sagt Markus Rösler. Zumal den Piraten der Baumkronen eine rosige Zukunft bevorstehen könnte: Computersimulationen zeigen, dass sie sich im Zuge des Klimawandels vermutlich weiter ausbreiten werden.  

Ob sich die dadurch entstehenden Probleme mit den bisherigen Methoden eindämmen lassen, ist fraglich. Viele Fachleute plädieren deshalb dafür, nach neuen und wirksameren Bekämpfungsmethoden zu suchen. Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel darin, die natürlichen Gegenspieler der Parasiten zu rekrutieren. Schließlich gibt es weltweit eine ganze Reihe von Insekten, Bakterien und Pilzen, die Misteln befallen und schädigen. Etliche davon sind auch schon identifiziert und auf ihre Talente als biologische Schädlingsbekämpfer getestet worden.

In der Türkei zum Beispiel hat ein Team um Recep Kotan von der Atatürk Universität in Erzurum auf kranken Weißbeerigen Misteln eine ganze Reihe von Pilzen und Bakterien entdeckt. Unter den Pilzen fanden sich vier, die damit besprühte Misteln stark schädigten. Bisher sind solche Ansätze allerdings erst im Laborstadium, eine kommerzielle Anwendung gibt es noch nicht. Um die Misteln von den Bäumen zu holen, ist man also auch heute noch auf mechanische Methoden angewiesen, mit denen schon der Druide Miraculix gearbeitet hat. Auf die goldene Sichel kann man dabei allerdings verzichten.