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Ein Gespür für Katastrophen

Manche Tiere zeigen vor Erdbeben ungewöhnliche Verhaltensweisen. Lassen sich solche Phänomene vielleicht als Warnsystem nutzen?
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Ein Gespür für Katastrophen

In der griechischen Metropole Helike am Golf von Korinth sollen sich im Winter des Jahres 373 vor Christus gespenstische Szenen abgespielt haben. „Alle Mäuse und Marder und Schlangen und Tausendfüßler und Käfer und alle anderen Tiere dieser Art verließen geschlossen die Stadt“, berichtet der mehr als 500 Jahre später geborene römische Autor Aelian. Niemand habe sich zunächst einen Reim darauf machen können. Bis fünf Tage später ein gewaltiges Erdbeben sämtliche Gebäude zerstörte und eine riesige Flutwelle ganz Helike unter Wasser setzte. Es gab kaum Überlebende, die Katastrophe hatte die mächtige Stadt und ihren berühmten Poseidon-Tempel geradezu von der Landkarte radiert.

Seit der Antike gibt es immer wieder Berichte über Tiere, die kurz vor einem Erdbeben, einem Vulkanausbruch oder einem Tsunami plötzlich verrücktspielten. Können sie im Vorfeld solcher Katastrophen also etwas wahrnehmen, das dem Menschen und seinen Messgeräten bis heute entgangen ist? Was genau hinter solchen Verhaltensweisen steckt, ist in den meisten Fällen noch unklar. Es spricht aber einiges dafür, dass manche Arten tatsächlich ein feines Gespür für Erdbeben haben. Denn auch für sie können die Erschütterungen lebensgefährlich sein.

„So gibt es Hinweise darauf, dass Erdbeben einen großen Einfluss auf Wale haben können“, sagt Fabian Ritter von der Berliner Walschutz-Organisation M.E.E.R. e. V. „Und das gilt vor allem für die tief tauchenden Arten.“ Cuvier-Schnabelwale zum Beispiel stoßen auf der Jagd nach Tintenfischen bis in Tiefen von 3000 Metern vor und können mehr als drei Stunden unter Wasser bleiben. Das schafft nach bisherigem Wissen kein anderes Säugetier.

„Allerdings kommen auch Schnabelwale bei solchen extremen Tauchgängen an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit“, betont Fabian Ritter. Umso gefährlicher wird es, wenn sie dabei auch noch von einem Erdbeben überrascht werden. Eines der Probleme sind dabei die massiven Druckschwankungen, die durch die Bewegungen des Meeresgrundes entstehen. „Durch einen plötzlichen starken Druckabfall können die Tiere ein Trauma erleiden, das direkt zum Tod führt“, erklärt der Biologe.

Ähnlich wie etwa ein Militär-Sonar ist zudem auch ein Erdbeben eine Lärmquelle, deren tiefes, lautes Grollen die Wale erschrecken oder verängstigen könnte. „Sie bekommen ja mit, dass dort unten etwas Ungewöhnliches und möglicherweise Gefährliches vor sich geht“, sagt der Berliner Wissenschaftler. „Da kann es durchaus passieren, dass sie vor Schreck zu schnell auftauchen.“ Die Folgen sind dann die gleichen wie bei menschlichen Tauchern: Der Stickstoff, der sich beim Tauchgang in den Körpergeweben angesammelt hat, perlt aus. Die dabei entstehenden Gasbläschen können die Arterien verstopfen und zu Gewebeschäden führen. Mit anderen Worten: Die Schnabelwale handeln sich die berüchtigte Taucherkrankheit ein, die zu Desorientierung bis hin zur Bewusstlosigkeit führen kann. Schon länger ist bekannt, dass dieses Problem die Tiere stranden lassen kann.

Auch für die überlebenden Meeressäuger aber muss die Welt nicht gleich wieder in Ordnung sein, wenn sich die Erde wieder beruhigt. Das hat eine Forschungsgruppe um Marta Guerra von der University of Otago im neuseeländischen Dunedin bei einer Studie an Pottwalen festgestellt. Eine auch bei Touristen sehr bekannte Population dieser Meeresriesen geht in einem Tiefseegraben vor der Stadt Kaikoura auf Neuseelands Südinsel auf die Jagd nach Tintenfischen. Ihr Jagdrevier aber wurde im November 2016 von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert. Unterwasser-Erdrutsche und reißende Ströme von sedimentreichen Wassermassen veränderten den Meeresgrund und rissen einen großen Teil der darauf lebenden Organismen mit sich. Das aber veränderte das Verhalten der Pottwale deutlich. So gingen die Meeresjäger nach dem Beben nicht nur an anderen Stellen auf Nahrungssuche als zuvor. Die Zeit, die sie zwischen ihren Tauchgängen an der Oberfläche verbrachten, verlängerte sich auch um 25 Prozent.

Die Forscher schließen daraus, dass sich durch die Katastrophe nicht nur die Lage der Pottwal-Restaurants verändert hat. Offenbar mussten die Tiere anschließend auch mehr Energie darauf verwenden, überhaupt genug Beute zusammenzubekommen. Also brauchten sie nach jedem Jagdtrip erst einmal eine längere Erholungspause, bevor sie sich wieder auf den Weg in die Tiefsee machen konnten. Insgesamt dauerte es ungefähr ein Jahr, bis Kaikouras Pottwale wieder zu ihren alten Verhaltensweisen zurückkehrten.

Bei einem so gefährlichen Ereignis wie einem Erdbeben wäre es natürlich praktisch, wenn die betroffenen Tiere nicht erst im Nachhinein reagieren könnten. Sondern am besten, bevor es richtig gefährlich wird. Ob Wale dazu in der Lage sind, weiß bisher allerdings niemand so genau. Schließlich sind gerade die Reaktionen von Meeresbewohnern in solchen Situationen nur mit einigem Aufwand zu beobachten. An Land dagegen fällt ungewöhnliches Verhalten viel leichter auf. Vor dem verheerenden Tsunami, der Weihnachten 2004 über Südostasien hereinbrach, sollen zum Beispiel sowohl in Sri Lanka als auch in Thailand Elefanten landeinwärts in höheres Gelände geflohen sein.

Wissenschaftlich dokumentiert ist ein anderer Fall in den italienischen Abruzzen. Im Frühjahr 2009 war Rachel Grant von der Open University im britischen Milton Keynes dort unterwegs, um das Fortpflanzungsverhalten von Erdkröten zu untersuchen. Wenn diese Amphibien einmal in Paarungsstimmung sind, versuchen sie normalerweise auch, zur Sache zu kommen. Egal, was ringsum vorgeht. Doch in diesem Jahr beobachtete die Forscherin etwas Verblüffendes: Ende März und Anfang April, also mitten in der Paarungssaison, verließen die Tiere plötzlich ihre Laichgewässer – wenige Tage, bevor ein Erdbeben die 74 Kilometer entfernte Stadt L‘Aquila zerstörte.

Die Frage, was hinter solchen Phänomenen steckt, löst in der Wissenschaft noch immer einiges Rätselraten aus. Relativ einfach ist die Sache bei tierischen Reaktionen, die nur ein paar Sekunden vor einem Beben zu beobachten sind. Solche Fälle erklärt die US-Geologiebehörde United States Geological Survey mit der unterschiedlich starken Sensibilität verschiedener Arten für Erdbebenwellen. Vom Epizentrum aus breiten sich die sogenannten Primärwellen (P-Wellen) am schnellsten aus. Etwas langsamer sind die Sekundärwellen (S-Wellen), die dann die Zerstörungen anrichten. Während die meisten Menschen die P-Wellen kaum wahrnehmen können, haben andere Arten dafür ein feineres Gespür – und gewinnen so einen kleinen Zeitvorsprung.

Das erklärt allerdings keine der vielen Geschichten, in denen Tiere schon Stunden oder sogar Tage vor einer Katastrophe nervös geworden sind. Was sie in solchen Fällen gewarnt haben könnte, bleibt bisher Spekulation. Viele Fachleute aber würden das zu gerne verstehen. Denn dann könnte sich die Menschheit womöglich irgendwann einen Jahrtausende alten Traum erfüllen: Ein funktionierendes Frühwarnsystem für Erdbeben könnte viele Leben retten. Darüber sind sich alle Fachleute einig. Allerdings sind sämtliche Versuche, eine technische Methode dafür zu entwickeln, bisher im Sande verlaufen. Und auch die Tierwelt hat sich in der Hinsicht nicht als sonderlich zuverlässiger Verbündeter erwiesen.

Da gibt es zwar den berühmt gewordenen Fall des Bebens von Haicheng in China. Dort hatten Menschen im Februar 1975 beobachtet, wie Ratten und Schlangen ihre unterirdischen Winterquartiere verließen. Die Behörden ordneten daraufhin eine Evakuierung an – einen Tag, bevor ein Beben der Magnitude 7,2 die Millionenstadt in Schutt und Asche legte. Nur hat es rund um die Welt eben auch viele schwere Katastrophen gegeben, vor denen die Fauna nicht gewarnt hat. Etliche Geoforscher bezweifeln daher, dass sich Tiere überhaupt für solche Aufgaben eignen.

Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell ist da optimistischer. „Das Problem ist, dass es bisher nur einzelne Anekdoten über Tiere gibt, die sich vor Erdbeben komisch verhalten haben“, sagt der Wissenschaftler. „Niemand hat systematisch und über einen längeren Zeitraum beobachtet, was sich da überhaupt abspielt.“

Genau das wollen er und sein Team ändern. Seit 2016 reisen sie dazu regelmäßig in das Dorf Capriglia in den italienischen Abruzzen. Auf dem Ökobauernhof der Familie Angeli haben sie dort Kühe, Schafe und Hunde als potentielle Erdbeben-Warner rekrutiert. Vom 26. Oktober bis zum 18. November 2016 und vom 17. Januar bis zum 16. April 2017 trugen die Tiere Halsbänder mit einem daumengroßen Messgerät, das ihre Bewegungen in allen drei Dimensionen sehr genau aufzeichnete.

Als die Forscher diese Daten später analysierten und mit dem Auftreten der zahllosen kleineren und größeren Erdbeben in dieser Zeit verglichen, stießen sie auf interessante Zusammenhänge. „Im Vorfeld der Beben sehen wir tatsächlich bestimmte Verhaltensmuster“, berichtet Martin Wikelski. Besonders sensibel reagierten die Hunde, die immer wieder hektisch herumliefen. Die Kühe dagegen verhielten sich zunächst sogar ruhiger als sonst, wirkten geradezu eingefroren. Dann aber ließen sie sich von der Nervosität der Hunde anstecken und bewegten sich ebenfalls mehr. „Es ist also aufschlussreich, ein ganzes Kollektiv von Tieren zu beobachten, weil die Mitglieder sich gegenseitig beeinflussen“, schließt der Verhaltensforscher.

Er betont allerdings auch, dass sich diese Ergebnisse noch nicht für ein Frühwarnsystem nutzen lassen. Dazu brauche man viel mehr Daten. Daher werden er und sein Team auch in Zukunft immer wieder in die Abruzzen zurückkehren. Dort untersuchen sie nicht nur die bewährten Farmtiere mit noch besseren Messgeräten. Ihr Interesse gilt auch den Schlangen, die als besonders erdbebensensibel gelten. Neun Monate lang haben sie diese Tiere mithilfe von implantierten Mini-Sendern schon beobachtet. Die Technik funktioniert gut. Wenn die nächsten Erdbeben kommen, wird sich zeigen, ob die Reptilien im Vorfeld tatsächlich besondere Verhaltensweisen an den Tag legen.

Neue Erkenntnisse versprechen sich die Forscherinnen und Forscher aus Radolfzell aber auch von einer intensiveren Beobachtung von Hunden und Katzen. Deshalb arbeiten sie mit der Firma Tractive zusammen, die GPS-Halsbänder für Haustiere herstellt. Eigentlich sind diese dazu gedacht, die Besitzer jederzeit über den Aufenthaltsort ihrer Vierbeiner zu informieren. Doch die Software, die das Max-Planck-Team für seine Verhaltensstudien einsetzt, läuft darauf auch. Derzeit sind weltweit mehr als 1,2 Millionen Haustiere mit solchen Halsbändern unterwegs, 45.000 davon arbeiten bereits im Dienst der Forschung mit. Vielleicht kann ja auch dieses Netzwerk von vierbeinigen Beobachtern helfen, dem tierischen Gespür für Erdbeben auf die Spur zu kommen.