Haben Sie oft Streit mit anderen? Interessieren Sie sich für Kunst? Sind Sie erfinderisch? Launisch? Selbstsicher? Mithilfe solcher Fragen schätzen Psychologen gern die Persönlichkeit von Menschen ein. Das sogenannte „Big Five Inventory“ konfrontiert einen mit 60 Aussagen über sich selbst, die man in fünf Stufen von „stimme voll zu“ bis „stimme gar nicht zu“ einsortieren soll. Anhand der Antworten kristallisieren sich dann verschiedene Facetten der eigenen Persönlichkeit heraus. So erfährt man zum Beispiel, wie extrovertiert und verträglich, wie offen, gewissenhaft und emotional stabil man im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ist. Neben diesen fünf zentralen Kategorien, den sogenannten „Big Five“, erfasst der Fragebogen auch noch eine Reihe von spezifischeren Eigenschaften.
Persönlichkeitsforschung ist also schon bei Menschen eine recht komplexe Angelegenheit. Das gilt umso mehr bei Tieren, die man nicht mit ausgetüftelten Fragebögen konfrontieren kann. Doch auch bei ihnen lohnt es sich, die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Artgenossen genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn das führt oft zu erstaunlichen Ergebnissen.
Affen mit Charakter
So lassen sich die „Big Five“ der menschlichen Persönlichkeit in ganz ähnlicher Form auch bei Schimpansen finden. Auch da gibt es zum Beispiel verträglichere Zeitgenossen, die gut mit anderen klarkommen, gerne kooperieren und selten aggressiv werden. Genauso gibt es aber auch Unruhestifter und Streithähne, für die all das nicht gilt.
Wie ein bestimmtes Tier diesbezüglich aufgestellt ist, lässt sich durch eine genaue Analyse seines Verhaltens einschätzen. Bei Affen, die in menschlicher Obhut leben, sind da oft Tierpfleger und andere Betreuer gefragt. Sie füllen für ihre Schützlinge spezielle Fragebögen aus, in denen Wesenszüge mit bestimmten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht werden. Wie ängstlich ein Tier ist, machen sie zum Beispiel daran fest, ob es bei echten oder eingebildeten Bedrohungen schreit, Grimassen zieht oder die Flucht ergreift.
Auf diese Weise hat eine Gruppe um Drew Altschul von der University of Edinburgh die individuellen Eigenheiten von mehr als 500 Zoo-Schimpansen erfasst. Dabei hat sich gezeigt, dass auch in Affenkreisen bestimmte Typen klar im Vorteil sind: Männchen, die gut mit anderen Artgenossen zurechtkommen, haben eine deutlich höhere Lebenserwartung als ihre weniger umgänglichen Kollegen – und damit auch bessere Chancen, Nachwuchs in die Welt zu setzen. Auf diese Weise könnte die Evolution sowohl bei Schimpansen als auch bei Menschen die Entwicklung von verträglicheren Persönlichkeiten gefördert haben, vermutet das Team.
Mut ist gefährlich
Klar ist jedenfalls, dass die Persönlichkeit einen wichtigen Einfluss auf den Alltag, das Familienleben und den Erfolg von Primaten hat. Wie aber sieht das bei Tieren aus, die nicht zur näheren Verwandtschaft des Menschen gehören? Auch da haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon eine Fülle von individuellen Verhaltensunterschieden entdeckt. Fische zum Beispiel besitzen nicht nur in dem bekannten Zeichentrickfilm „Findet Nemo“ ganz verschiedene Charaktere.
Einer der Hauptdarsteller dieses Films ist der ängstliche Clownfisch-Vater Marlin, der überall Gefahr wittert. Sein Sohn Nemo dagegen ist eher neugierig und mutig veranlagt – und das hat Folgen. Bei einer Mutprobe wagt er sich zu nah an ein Boot heran und wird prompt gefangen. Wer wissen will, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt, sollte sich mit Robert Arlinghaus vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und der Humboldt-Universität zu Berlin unterhalten. Er und sein Team erforschen die Persönlichkeit von Fischen – und stoßen dabei tatsächlich auf Angsthasen und Draufgänger. Manche Artgenossen sind zudem aktiver, aggressiver oder entdeckungsfreudiger als andere. Und neben den sozial eingestellten Tieren schwimmen die Eigenbrötler.
Wie aber lässt sich herausfinden, welchen Charakter so ein Schuppenträger hat? „Es gibt dafür verschiedene Standard-Tests“, sagt Robert Arlinghaus. Er und sein Team haben zum Beispiel den Mut von Karpfen untersucht. Die schwimmenden Kandidaten hatten dabei einen sicheren Unterschlupf und zwei Futterstellen zur Verfügung. Letztere konnten sie allerdings nur erreichen, wenn sie eine freie Fläche überquerten, auf der sie möglichen Feinden schutzlos ausgeliefert waren. „Die Risikobereitschaft eines Tieres zeigt sich bei diesem Versuch darin, wie viel Zeit es außerhalb seines Verstecks verbringt und wie oft es die Futterstellen aufsucht“, erklärt der IGB-Forscher.
Das Ergebnis hängt allerdings nicht nur von der Persönlichkeit, sondern auch von den äußeren Umständen ab. Das haben Robert Arlinghaus und sein Kollege Thomas Klefoth von der Hochschule Bremen herausgefunden, als sie das gleiche Experiment in einem naturnahen Teich und in einem ähnlich großen künstlichen Becken in einer Halle durchführten. Die Testfische gehörten zu zwei Karpfenrassen mit unterschiedlichem Temperament: Schuppenkarpfen gelten als vorsichtige Bedenkenträger, während die hochgezüchteten Spiegelkarpfen eher das dreiste Verhalten von Haustieren an den Tag legen.
Im Versuchsteich zeigten sich diese Unterschiede sehr deutlich: Die mutigen Spiegelkarpfen steuerten die ungeschützten Futterstellen sehr viel häufiger an als die scheuen Schuppenkarpfen, die lieber so lange wie möglich in ihrem Versteck blieben. Im Aquarium aber schien es plötzlich gar keine schwimmenden Angsthasen mehr zu geben. Wo kein Reiher-Schnabel lauert und das Wasser nicht einmal den Geruch von Raubfischen enthält, wirft offenbar auch der schüchternste Schuppenkarpfen seine Zurückhaltung über Bord. Doch als die Forscher immer wieder Fische mit einer kleinen Angel aus dem Becken holten und anschließend vorsichtig wieder zurücksetzten, fielen die Tiere wieder in ihre typischen Verhaltensmuster zurück. „Erst die latente Bedrohung durch die Angel brachte ihr wahres Gesicht zum Vorschein“, erläutert Robert Arlinghaus.
Angeln und Netze aber lauern heutzutage in vielen Seen, Flüssen und Meeresgebieten. Beeinflusst die Fischerei also die Persönlichkeitsentwicklung, weil sie bestimmte Verhaltensweisen belohnt und andere bestraft? Computermodelle zeigen, dass die Erfahrungen von Clownfisch Nemo durchaus einen wahren Hintergrund haben: Mobilere Tiere mit mehr Erkundungsdrang werden eher geangelt, zurück bleiben vor allem die scheuen und wenig entdeckungsfreudigen Exemplare. Und das gilt nicht nur für virtuelle Fische. Auch in der Realität haben Robert Arlinghaus und sein Team solche Effekte schon nachgewiesen. Bei Hechten zum Beispiel fördert die Fischerei kleine, eher inaktive und scheue Tiere, die schwer zu fangen sind.
Das liefert auch einen Hinweis darauf, wie unterschiedliche Tierpersönlichkeiten im Laufe der Evolution entstanden sein könnten. Generell scheinen Feinde und Konkurrenten, schwankende Umweltfaktoren und andere Herausforderungen nämlich die Ausbildung von verschiedenen Charakteren zu begünstigen. Ist die Lage entspannt, kann man sich schließlich mit allen möglichen Verhaltensweisen irgendwie durchmogeln. Doch wenn es ernst wird und vielleicht sogar um Leben und Tod geht, ist Konsequenz gefragt: Man ist entweder vorsichtig und geht auf Tauchstation. Oder man schlägt alle Bedenken in den Wind und nutzt jede Gelegenheit zum Fressen.
Ein Patentrezept für den Erfolg gibt es dabei nicht. Je nach Situation kann mal der eine Verhaltenstyp im Vorteil sein und mal der andere. Wer zum Beispiel aktiver und mutiger ist, lebt wahrscheinlich gefährlicher. Dafür bekommt er aber auch mehr zu fressen. Lauern kaum Feinde in seinem Lebensraum, hat er vermutlich bessere Karten als seine vorsichtigeren Konkurrenten. In einer riskanteren Umgebung dagegen zieht er wohl eher den Kürzeren. Für das Überleben der gesamten Art dürfte es also von Vorteil sein, sowohl Angsthasen als auch Draufgänger in ihren Reihen zu haben.
Individualisten auf sechs Beinen
Dieses Prinzip aber gilt für alle möglichen Tiere. Warum also sollte es nur bei besonders hoch entwickelten Lebewesen verschiedene Persönlichkeiten geben? „Tatsächlich kenne ich keine Tierart, bei der sich Artgenossen nicht individuell in ihrem Verhalten unterscheiden“, sagt Robert Arlinghaus. Offenbar ist es eine Kombination aus Genetik und Umwelteinflüssen, die diese Vielfalt hervorbringt. Und je genauer Wissenschaftler hinschauen, umso mehr Beispiele finden sie. Sogar unter kleinen und unscheinbaren Insekten.
Diese Tiergruppe ist erst vor gut zehn Jahren in den Blick der Persönlichkeitsforschung gerückt. Vorher hatte niemand so recht auf dem Schirm gehabt, was für unterschiedliche Charaktere da durch die Gegend krabbeln, flattern oder surren. „Systematisch untersucht wurde das zum ersten Mal an Wanzen und Blattläusen“, erinnert sich Caroline Müller von der Universität Bielefeld. Wenn man nach den Individualisten der Tierwelt fahndet, sind das in den Augen vieler Menschen nicht unbedingt die naheliegendsten Kandidaten. Das Gleiche gilt auch für den nur wenige Millimeter großen, metallisch glänzenden Meerrettich-Blattkäfer, dessen Verhalten Caroline Müller und ihr Team seit 2013 untersuchen. Bis heute erntet die Biologin teils skeptische, teils amüsierte Blicke, wenn sie von Persönlichkeitstests für Käfer erzählt. Doch die Ergebnisse ihrer Studien sprechen für sich.
Wie risikofreudig so ein Insekt ist, lässt sich zum Beispiel mit einer ursprünglich für Wirbeltiere entwickelten Mutprobe untersuchen: „Man setzt die Käfer in eine offene Arena und misst die Zeit, bis sie am Rand Schutz suchen“, erklärt die Forscherin. Tiere, die das lange hinauszögern, gelten als besonders mutig. Das gleiche gilt für Artgenossen, die sich aus einem dunklen Versteck rasch wieder ans Licht wagen. Oder die sich nach einem simulierten Angriff nicht lange tot stellen, sondern rasch wieder auf die Beine kommen. „Wir waren anfangs selbst überrascht, wie konsistent sich die Käfer in diesen Versuchen verhielten“, resümiert Caroline Müller. Wer sich in einem Test mutig zeigte, tat das auch in anderen. Und dieses Muster blieb auch über längere Zeit erhalten. Genau diese beiden Voraussetzungen müssen in den Augen der Forscherin erfüllt sein, um einem Tier eine Persönlichkeit zusprechen zu können.
Welche das im Einzelfall ist, hängt auch bei Insekten nicht allein von der Genetik ab. Das haben Martin Tremmel und Caroline Müller herausgefunden, als sie ihre Käfer verschiedenen Umweltbedingungen aussetzten. Tiere, die sich mit schlechterem Futter begnügen mussten, zeigten sich zum Beispiel mutiger als Artgenossen, die im kulinarischen Schlaraffenland lebten. „Erstere haben wahrscheinlich nichts zu verlieren“, liefert Caroline Müller eine mögliche Erklärung. „Sie müssen größere Risiken eingehen, um überhaupt genug Futter zu finden.“
In anderen Versuchen hat die Biologin zusammen mit ihrem Kollegen Thorben Müller untersucht, wie sich das soziale Umfeld auf die Persönlichkeit der Käfer auswirkt. Insekten, die in Gruppen aufwuchsen, zeigten sich später nicht so mutig wie einzeln aufgezogenen Artgenossen. Möglicherweise können sie sich zu viel Dreistigkeit nicht erlauben, weil die anderen Gruppenmitglieder sie in die Schranken verweisen.
Doch nicht nur die eigenen Artgenossen können die Persönlichkeit von Insekten beeinflussen. Auch der Mensch funkt ihnen mitunter dazwischen. Wenn er ihre Lebensräume zerstört und voneinander isoliert, zwingt er sie zum Beispiel oft zu einer ungünstigen Partnerwahl: Tiere, die in ihrem Refugium isoliert wie auf einer Insel leben und keinen Kontakt nach außen haben, müssen sich wohl oder übel mit Verwandten paaren. Diese Inzucht aber kann nicht nur zu Krankheiten führen. Sie lässt Meerrettich-Blattkäfer auch eher unvorsichtig werden. Ähnlich wie ihre hungergeplagten Artgenossen haben offenbar auch diese Tiere wenig zu verlieren, weil sie sich wegen ihrer Gesundheitsprobleme ohnehin schlechter fortpflanzen können.
Neben dem Mut scheinen sich durch die Aktivitäten des Menschen auch noch andere Facetten der Käferpersönlichkeit zu verändern. „Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass Weibchen unter dem Einfluss von Pestiziden aggressiver werden“, berichtet Caroline Müller. Das liegt vermutlich an Veränderungen im Stoffwechsel und im Nervensystem. „Haben Sie oft Streit mit anderen?“ Wenn sie einen Fragebogen ausfüllen könnten, müssten die krabbelnden Unruhestifterinnen diese Frage wohl mit „Ja“ beantworten.