Silvester 2012 auf dem Teufelsberg in Berlin wird der folgenschwere Vorsatz gefasst: Es muss sich etwas ändern und zwar grundlegend. Als Inspiration dienen männerdominierte Kochshows. Und Grillen wird plötzlich zur Lebensphilosophie. Keine Gesprächs-runde mehr ohne die besten Tricks für das beste Dry-aged-Steak und das Rezept für die ultimative Sauce. Da könnte man doch gleich einen Laden eröffnen mit Kochutensilien und hochwertigem Fleisch, maßgeschneidert für Männer. Natürlich mit einer Kaffeeecke für den Expertentalk. Und hierfür sollte es ein wirklich guter Kaffee sein, professionell zubereitet.
Logische Konsequenz – als Fundament einen Barista Kurs besuchen, besser noch einen Profikurs mit Maschinenkunde, Kaffeezubereitung und Latte-Art, damit das Herz im Cappuccino dem Kaffeegenießer ein anerkennendes Nicken oder, etwas emotionaler, ein verzücktes Lächeln entlockt.
Berlin avancierte gerade zum deutschen Kaffee-Mekka, die sogenannte Third Wave war dort bereits angekommen. In München wurde der Begriff damals noch eher der Surfszene zugeordnet. Ab in die „Berlin School of Coffee“, um sich zum Barista ausbilden zu lassen und nach zwei Tagen zu wissen, dass eine völlig neue Idee zündete. Statt Männerladen Kaffee rösten, aus den grünen Bohnen alles an Aromen herausholen, um am Ende ein beglückendes Tassenprofil zu genießen. Bis zur Eröffnung der eigenen Kaffeerösterei musste sich der kleine Funke jedoch in Geduld üben.
Drei Jahre dauerte die Geduldsprobe, in der sich die Frage aufdrängte, ob die Gründung einer Kaffeerösterei eher frustrierte „Übersprungshandlung“, falsch verstandene Selbstverwirklichung, Realitätsflucht oder gar Selbstüber-schätzung war. Mahner und Bedenken-träger im Umfeld heizten die fragile Sinnsuche zusätzlich an. Zeit genug, das Rösten bei den Besten von der Pike auf zu lernen. Jede Gelegenheit zum Besuch von Fachmessen, Kaffee-Events und Kaffee-Meisterschaften wurde zur Informationsbeschaffung genutzt, mehrere Fachmagazine abonniert, um den unendlichen Wissensdurst zu stillen und einen Kompass zu finden. Das erste Röster-Equipment, ein 100g-Sample-Röster wurde angeschafft und homöopathische Mengen an Rohkaffee eingekauft.
Als „Greenhorn“, aber ambitioniert, künftig die Rösterszene aufzumischen, wird eine erste Ursprungsreise nach Ruanda gebucht und zur Horizonterweiterung eine Ausbildung zum „Coffee Master“ an der „Escuela de Café“ in El Salvador absolviert. Eine Art „Bootcamp“ für Kaffee-Enthusiasten: Morgens mit dem ersten Hahnenschrei aufstehen, zwei Stunden Theorie (geballte Wissensvermittlung über Kultivierung, Krankheiten, Ernte und Aufbereitung), danach Verladung auf geländegängige Pickups und teils stundenlange Fahrten über holpriges Gelände zu den Kaffeeplantagen für den praktischen Unterricht (inkl. Ernte der Kaffeekirschen). Spätestens bei der Vorbereitung auf die Abschlussprüfung steigt nicht nur die Nervosität, sondern auch die Erkenntnis, dass Kaffeeanbau ein Knochenjob ist.
Auch die Suche nach einer geeigneten Location in München, die zum einen finanzierbar und zum anderen in guter Lauflage ist, beschäftigt. Nicht zu verachten ist der Aspekt, dass eine Röstmaschine betrieben werden muss. Und das alles neben den zeitintensiven Vollzeitjobs.
Aus Arbeiterfamilien stammend, mit rudimentären Erfahrungen in der Gastronomie und Hotellerie, gab und gibt es keine unternehmerische Familientradition, keine hilfreichen Verbindungen zu Wirtschaft und Politik, keine Kaffeeplantage, sondern nur den Willen, das Durchhaltevermögen und die brennende Leidenschaft. Ein klassischer Sprung ins eiskalte Wasser! Ein Netzwerk von Gleichgesinnten ist von unschätzbarem Wert, und dank der Offenheit und Hilfsbereitschaft der Kaffeeszene ist es gelungen, ein solches aufzubauen. Es ermutigt, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen.
Kaffeerösten ist eine wundervolle Handwerkskunst, die viel Erfahrung, Konzentration und jede Menge Fingerspitzengefühl erfordert, um Rohkaffee zu richtig gutem Kaffee zu veredeln. Man muss den Bohnen Zeit lassen, damit sie ihr volles Geschmackspotenzial entfalten können. Der Röstvorgang ist eine Art Mantra der Entschleunigung, und nur das Abpassen des richtigen Momentes zum Beenden der Röstung beschleunigt kurz den Puls. Auch wenn das Rösten heute von moderner Software unterstützt wird – die seidenen Fäden hält der Röster behutsam, aber bestimmt selbst in der Hand. Während die Säcke mit Rohkaffee darauf warten, geröstet zu werden, hat der Kaffee bereits eine lange Geschichte hinter sich. Der Besuch einer Kaffeeplantage flößt immer wieder Ehrfurcht und Respekt ein. All die Hege und Pflege von der Kultivierung der Kaffeepflanzen bis zur Ernte und der anschließenden Aufbereitung. So viel Arbeit und Mühe, schutzlos den Wetterkapriolen ausgesetzt, hoffend, von Schädlingsbefall wie Blattrost und Kaffeekirschenbohrer verschont zu bleiben. Selbstverständlich ist es, faire Preise, die deutlich über dem Börsenpreis liegen, zu bezahlen, um den Farmern das Überleben zu sichern und den Arbeitern vor Ort einen würdigen Lebensstandard zu ermöglichen. Ein schmaler Grat auch als Kleinunternehmer zwischen Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit, Transparenz und Wohltätigkeit.
Diese Faktoren spielen auch eine zentrale Rolle beim Aufspüren von Rohkaffee-Quellen. Schnell wurde klar, dass für einen Röstneuling der „Direct Trade“, also der Import des Kaffees direkt von den Farmern, eine romantische Vorstellung ist. Um die Herzensangelegenheit, die unglaubliche Geschmacksvielfalt (geprägt u.a. durch Mikroklimata, Bodenstruktur, Varietät, Aufbereitung) zu zeigen, braucht es eine repräsentative Auswahl an Rohkaffees aus den verschiedenen Anbauregionen rund um den Äquator, auch Kaffeegürtel genannt. Und dafür gibt es Experten, professionelle Rohkaffeehändler, die den Kaffee direkt bei den Bauern einkaufen.
Es existiert so viel guter Kaffee auf der Welt, unzählige Varietäten (Arabica und Canephora sind nur die Überschriften) mit so malerischen Namen wie Pacamara, Bourbon oder Napo Payamino werden kultiviert. Dazu die betörende Beschreibung des Geschmacksprofils und der Anspruch, genau die Nuancen von reifer Kirsche, karamellisiertem Popcorn oder Haselnussnougat beim Rösten herauszukitzeln. Bei dem anschließenden Cupping, der Verkostung des Kaffees (ähnlich einer Weinprobe), steigt die Spannung. Hier zeigt sich schonungslos, ob die Röstung den Geschmackserwartungen entspricht.
Dementsprechend gleicht eine Kaffeerösterei eher einem Versuchslabor: Säcke mit Rohkaffee, Kännchen, Schälchen, Musterbeutel mit Rohkaffee, Gläschen mit Röstproben, Farbmesser, Aromakasten zur Schärfung der Sensorik, Kaffeemühlen, Kästchen mit Kaffeetüten und Etiketten, Behälter zur Aufbewahrung des Röstkaffees aus Kunststoff oder Metall in allen Größen und Varianten.
Apropos Röstung: Zu welcher Liga gehören wir? Hell, medium, dunkel – verwirrend genug für den Laien. Wir halten uns, was den Charakter unseres Röstkaffees angeht, an die „Mitte“. Eigentlich ein Spagat, um einerseits der persönlichen Note der Bohne gerecht zu werden und andererseits geschmacklich ein breites Kundenspektrum anzusprechen. Die „Mitte“ hätten wir, die gibt es sowohl für Espresso als auch für Filterkaffee, und um das Ganze noch komplizierter zu gestalten, als Omni-Roast. Ein Omni-Roast ist sowohl für Espresso als auch für Filterkaffee geeignet. Die Grenzen sind fließend, Begriffe schwirren durch die Luft und aus dem Nichts taucht „Cold Brew“ als erfrischend samtiger Sommerdrink auf. Dabei handelt sich nicht um ein Craft-Beer, sondern tatsächlich um kalten Kaffee. Da kräuseln sich leicht die Lippen, kennt man doch den kalten, bitteren Kaffee von der Oma, der sich nur noch als Eiskaffee mit viel Vanille-Eis und Sahne irgendwie verwerten lässt. Der einzige Richtwert: der persönliche Geschmack.
Wir sind noch lange nicht fertig mit diesem schier unerschöpflichen Thema Kaffee. Es gibt kaum ein größeres Kompliment, wenn Kunden verschämt gestehen, dass sie beim Kaffeekauf fremd gegangen sind und mit überzeugter Erleichterung zu ihrem nach subjektivem Empfinden besten Kaffee, dem „Vogelmaier“ zurückkehren. So bleiben wir mit Freude und Dankbarkeit dran, denn eins ist gewiss: Wir leben Kaffee.